Brexit: Ein Königreich auf dem Weg zum Drittstaat
Es wird ernst: Ab 29. März 2019 wird Großbritannien nicht mehr Teil der EU sein. Doch wie genau die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen dann geregelt sein werden, darüber herrscht riesige Unsicherheit.
Am Sonntag vergangener Woche schließlich schaltet sich auch Bob Geldof ein. In einem offenen Brief an Premierministerin Theresa May fordert der irische Musiker, unterstützt von Kollegen wie Ed Sheeran und Roger Taylor, den Brexit sofort zu stoppen. Ein riesiger Fehler sei es, in dieses „selbst gebaute kulturelle Gefängnis zu gehen“.
Hunderte Milliarden Dollar
Das sehen nicht nur Künstler und die angeschlossene Musikindustrie so – sämtliche Branchen auf und außerhalb der Insel stehen kopfschüttelnd vor dem Austritt des Königreichs aus der Europäischen Union. Und noch ratloser, bisweilen auch wütender, macht sie der Umstand, dass noch immer kein durchdachtes Austrittsabkommen existiert. Dabei sind seit dem Votum der Briten mehr als zwei Jahre vergangen.
Niemand weiß, wie künftig Autos, Medikamente oder Computer auf die Insel gelangen, wie viel Schriftverkehr und welche Zölle bei der Einfuhr nötig sind. Waren im Wert von 256 Milliarden Euro importierte Großbritannien im vergangenen Jahr aus der EU – wo sollen diese künftig herkommen? Und werden sie für die Briten noch bezahlbar sein? Genauso offen ist, zu welchen Bedingungen und Kosten britische Unternehmen ab nächstem Jahr in die EU exportieren (wichtige Zielländer). Hier steht ein Handelsvolumen von 164 Milliarden Euro (2017) einer unklaren Gesetzeslage gegenüber.
Zwar gibt es seit Mitte September ein neues Zollgesetz, und auch eine Übergangsphase bis 31. Dezember 2020 wird inzwischen von Politik und Wirtschaft geradezu herbeigesehnt. Vor dessen Wirksamkeit steht jedoch ein geordnetes Austrittsverfahren aus der EU.
Die Zeit drängt
Dieses Abkommen muss den Güter- und Warenverkehr mit den 27 verbliebenen EU-Ländern auf ein solides, praktikables Fundament stellen. Eine zentrale Hausaufgabe, die die britische Regierung bis heute vor sich hergeschoben hat – dabei muss das Abkommen nicht nur in London und Brüssel, sondern auch in den einzelnen Parlamenten der EU-Länder besprochen und beschlossen werden. Doch die Verhandlungen stocken seit Monaten.
Für den 17. Oktober steht der nächste EU-Gipfel im Kalender. Ein Termin, den die britische Industrie, vertreten durch die Confederation of British Industry (CBI), jüngst veranlasste, der Regierung ein Ultimatum zu stellen. Endlich brauchbare Fortschritte wolle man sehen, forderte die CBI. Wirtschaftsforscher und Institute hatten vorab verschiedene Szenarien entworfen, was bei einem Brexit ohne Scheidungsvertrag passieren könnte: Kilometerlange Staus an Grenzen und Häfen, wahnwitziger Formularkrieg, überbordende Kosten, weil Lkws inklusive Fahrer auf zu wenigen Parkplätzen festsitzen und gleichzeitig Produktionshallen im ganzen Land auf Waren ihrer Zulieferer warten.
Don’t let me down
Und auch wenn sich die Musikindustrie besonders laut zu Wort meldet, die Insel brachte und bringt uns weit mehr als Beatles, Oasis oder eben Ed Sheeran. Seit Jahrzehnten bestehen enge Handelsbeziehungen. Am Rotterdamer Hafen treffen tausende Schiffe jährlich mit Warenlieferungen nach Großbritannien ein, schrieb Der Spiegel und wies daraufhin, dass für diese bald bis zu neun Formulare mehr (!) sowie aufwendige Zollkontrollen an den Ausfahrten drohen. Ganz abgesehen davon, dass ausgebildetes Personal für genau diese Kontrollen fehlt.
Gerade auch Deutschland ist ein bedeutender Handelspartner: Rund 10 Prozent des Exportvolumens landet zwischen Elbe und Bodensee, in Berlin, Frankfurt oder München. Und ein europaweites Prestigeprojekt, Airbus, dürfte sich exakt seiner Besonderheit – der Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg – beraubt sehen. Allein 15.000 Menschen setzen in Südengland und Wales Tragflächen für die Flugzeuge zusammen, bevor sie dann nach Hamburg und Toulouse weitergeliefert und mit den Bauteilen aus anderen europäischen Ländern endmontiert werden. Fehlen einzelne Teile, stockt in der Folge die ganze Produktion. Wie Der Spiegel berichtet, lagere Airbus nun bis Ende März so viele Teile wie möglich ein. Auch andere Unternehmen warten nicht länger auf die ordnende Hand aus London, sondern sorgen lieber selbst vor, indem sie Lagerflächen mieten und Warenströme umleiten.
Immense Schäden
Die Schäden eines harten Brexits beziffern Analysten auf bis zu 140 Milliarden Euro – für die verbliebenen EU-Länder. Und auf der Insel? Werden sich britische Unternehmen schwer tun zu forschen, zu wachsen, zu investieren und auch: Personal zu gewinnen. Die Londoner Finanzbranche etwa packt schon seit dem Votum vor zwei Jahren Kisten. Internationale Banken, die bislang alle EU-Geschäfte bequem aus London erledigen konnten, eröffnen nun Niederlassungen in den verschiedenen EU-Ländern. Würden auch die großen Produktionsunternehmen abziehen, selbst teilweise, gingen tausende Arbeitsplätze verloren. Schon jetzt sind sinkende Reallöhne und damit verbunden sinkende Kauflust bei den Briten zu beobachten. Die Warenhauskette House of Fraser meldete sich zahlungsunfähig, Marks & Spencer will Filialen schließen.
Und wo das Bruttosozialprodukt leidet, leiden auch die Steuereinnahmen. Dabei stieg die Staatsverschuldung in den letzten zehn Jahren kontinuierlich an und liegt aktuell bei 1,82 Billionen Pfund (88 % des BIP). Ein Umstand, der zu einem Sparkurs nebst Schröpfen der eigenen Bevölkerung führte. Schatzkanzler Philip Hammond rechnet mit einer Neuverschuldung in Höhe von 80 Milliarden Pfund bis 2033.
Noch einmal Aufschub
Tag für Tag ringen die Briten nun um eine Lösung, auch wenn es nur eine Zwischenlösung ist. Theresa May will jetzt erst einmal Zeit gewinnen und ihr Land für weitere zwei Jahre nach den bisherigen EU-Handelsabkommen arbeiten lassen. Zumindest für den Warenverkehr bliebe dann fürs erste alles wie gewohnt. Für den Personenverkehr ist diese Freiheit nicht zu erwarten, weshalb in dieser Frage mit deutlichem Gegenwind aus Brüssel zu rechnen ist. Und ein stabiles Abkommen gibt es dann ebenfalls nicht – nur eine Schonfrist. Und diese Schonfrist hat man ja bereits in den vergangenen beiden Jahren tatenlos verstreichen lassen.
Unser Rat
Exportieren Sie nach Großbritannien? Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat hier eine Checkliste zusammengestellt. In jedem Fall sollten Sie für Ihr Unternehmen genaue Szenarien durchspielen, welche Folgen (Kosten aus Personal- und Arbeitsaufwand, Logistik u.v.m.) ein harter Brexit hat. An welchen Stellen Ihrer Lieferkette etwa können Sie Sicherheit schaffen? Wo drohen Lieferengpässe, welche Aufträge werden unter Umständen schlecht zu erfüllen sein? Und: Wie stark erhöht sich Ihr Risiko eines Forderungsausfalls, beispielsweise auch, weil einer Ihrer Kunden wiederum stark von Großbritannien abhängig ist?